Der Nutri-Score aus ernährungspsychologischer Sicht

Der Nutri-Score scheint auf den ersten Blick eine große Entlastung in Sachen Ernährung zu sein: Statt sich mit den Inhaltsstoffen zu beschäftigen, reicht ein Blick auf die Farbe aus, um Kaufentscheidungen zu treffen. Das Ampelsystem gibt uns einen Anhaltspunkt in der unüberschaubaren Welt der Ernährung.

Das Einordnen in Farben hat jedoch seinen Preis. Rot wird beispielsweise mit einer Ampel assoziiert und bedeutet: „Halt!“ oder „Stop!“. Grün bedeutet „Los, geht’s“.

LEBENSMITTEL WERDEN IN GUT/SCHLECHT EINGETEILT.

Übertragen auf Lebensmittel findet dadurch eine klare Klassifizierung in ungesunde und gesunde Lebensmittel statt. Rot gekennzeichnete Lebensmittel werden in Folge mit der Bewertung „Soll/Darf ich nicht essen, ist ungesund.“ versehen und eher gemieden. Dies kommt einem Verbot oder einer auferlegten Zügelung gleich. Werden rot gekennzeichnet Produkte verzehrt, führt das bei Vielen unweigerlich zu einem schlechten Gewissen. Ferner findet durch das Verbot eine Aufwertung des Lebensmittels statt, die dann an Cheat Days oder zu besonderen Anlässen zu einem Überessen mit den „roten“ Lebensmitteln führt. Der Nutri-Score verstärkt also den Kreislauf zwischen Zügelung und Überessen.

VERKOPFTES ESSVERHALTEN.

Durch eine farbliche Kennzeichnung wird ein verkopftes Essenverhalten gefördert, das Körpergefühl wird dabei in den Hintergrund gedrängt. Und genau das ist ein großer Übeltäter in Zusammenhang mit Übergewicht, Essanfällen oder Essstörungen.

Personen, die aktuell schon sehr vorsichtig im Umgang mit Lebensmitteln sind, werden in der Folge vermutlich noch stärker differenzieren. Die Palette an erlaubten Lebensmitteln könnte durch die Farben noch stärker eingeschränkt werden.

GRÜN = IMMER GESUND.

Ein weiterer Minuspunkt bezieht sich auf den potentiellen Gesundheitsfaktor von grün gekennzeichneten Lebensmitteln. Der kann nämlich nicht für alle Menschen gleichermaßen gelten, was durch die Farben aber suggeriert wird. Grün ist für alle Menschen „gut“. Nicht selten kommt es zum Beispiel vor, dass Vollkornprodukte schlecht vertragen werden. Ein grüner Punkt suggeriert jedoch, dass Vollkorn zu bevorzugen ist. So kommt es dazu, dass Vollkornprodukte gegessen werden, obwohl sie zu Verdauungsbeschwerden führen. Diese werden jedoch auf einen „nicht funktionierenden“ Körper bezogen und nicht darauf, dass das Lebensmittel einfach nicht das Richtige war – schließlich ist es ja gesund. Die Bekömmlichkeit ist jedoch eines der wichtigsten Auswahlkritierien in der Ernährung. Werden ständig Speisen verzehrt, die schlecht vertragen werden, kann dies in Folge das Immunsystem und die Gesundheit schwächen.

OBJEKTIFIZIERUNG.

Mit einer farblichen Kennzeichnung kommt es weiters zu einer Objektifizierung von Lebensmitteln. Es geht nicht mehr um die Qualität der Produkte oder um die Herkunft. Viele Menschen wissen gar nicht, wie Lebensmittel produziert werden, wie ein ganz alltägliches Lebensmittel wie z.B. Brot hergestellt wird. Mit einer farblichen Kennzeichnung wird der Prozess der Objektifizierung verstärkt. Ein Lebensmittel wird zu „einer Farbe“, zu einem Objekt. Ein guter Bezug zu Lebensmitteln, zu deren Herstellung und Wissen um die Inhaltsstoffe ist eine Grundvoraussetzung für ein gesundes Essverhalten.

ERNÄHRUNGSKOMPETENZ.

In den vergangenen Jahren hofften Fachexperten, mehr Gesundheitsbewusstsein zu schaffen, indem sie Mengenempfehlungen abgaben oder auf die Ernährungspyramide verwiesen. Aktuelle Gesundheitsberichte zeigen aber, dass genau das Gegenteil passiert: Es gibt heute mehr übergewichtige Personen und mehr Menschen mit Verdauungsproblemen. Natürlich kann nicht ausgesagt werden, dass das Eine zum Anderen führt, aber ich denke, es ist überlegenswert, ob Pyramiden oder Farben die richtige Lösung sind.

Durch das Ampelsystem wird keine Ernährungskompetenz vermittelt, denn Konsumenten wissen in der Regel nicht, warum ein entsprechendes Lebensmittel überhaupt rot gekennzeichnet ist. Die Evaluierung von Ernährungskompetenz-Maßnahmen wie etwa Kochgruppen, Backkurse für Brot oder Fermentieren zeigen, dass diese zu mehr Ernährungsbewusstsein und zu mehr Kompetenz im Zusammenhang mit Ernährung führt. Zum Beispiel sind sich Fachexperten in Folgendem einig: In Kindergärten soll das gemeinsame Kochen eingeführt werden, anstatt Kindern beizubringen, dass sie sich auf eine farbliche Kennzeichnung der Lebensmittel oder auf die Ernährungspyramide konzentrieren sollten um sich gesund zu ernähren.